BSW - Wahlkampf in Kinderschuhen
Für das italienische Centro per la riforma dello stato durfte ich einen Artikel über die Bundestagswahlen aus Perspektive des BSW schreiben. Der Beitrag ist, leicht gekürzt und unter anderem Titel, in diesem Blog erschienen: https://centroriformastato.it/bsw-le-ragioni-della-sconfitta/ Hier die deutsche Fassung.
Deutschland hat gewählt, und zwar einige Monate früher, als vorgesehen. Am 6. November 2024 trat Bundeskanzler Olaf Scholz vor die versammelten Journalisten einer Pressekonferenz, und erklärt, dass er den Finanzminister entlassen habe. Er kündigt an, die Vertrauensfrage zu stellen, ein Verfassungsinstrument, dass es ermöglicht, die deutsche Bundesregierung aufzulösen und vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen.
Zu diesem Zeitpunkt ist das Bündnis Sahra Wagenknecht keine zehn Monate alt. Am 8. Januar 2024 war es als eine Abspaltung von der Partei Die Linke gegründet worden. Vorausgegangen waren jahrelange Streitigkeiten zwischen der der sogenannten „Bewegungslinken“ und einer Gruppe um die Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, einem der bekanntesten Gesichter der Partei. Über Monate hatte man in der Linkspartei versucht, die Abweichlerin wahlweise mundtot zu machen oder aus der Partei auszuschließen, bis diese schließlich, im Oktober 2023 die Konsequenzen gezogen und zusammen mit einer kleinen Gruppe Parteimitglieder und Abgeordneter ausgetreten war. Dadurch verlor die Partei Die Linke im Bundestag Fraktionsstatus und ab Januar 2024 vertraten zwei Gruppen im Bundestag den linken Flügel: die Altpartei Die Linke und das noch unbeschriebene Blatt, das BSW. Die Hoffnungen in die neue Partei waren groß, wie offenbar auch der Bedarf an einer neuen Stimme im parteipolitischen Spektrum: Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni des Gründungsjahres holte das BSW aus dem Stand 6,2 Prozent der Stimmen. Wenige Monate später dann die Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern – auch hier: überall zog das BSW mit zweistelligen Ergebnissen in die Landesparlamente ein und beteiligte sich an zwei Landesregierungen in Koalition mit der SPD (Brandenburg) bzw. SPD und CDU (Thüringen). Die Erwartungen waren groß. Als Olaf Scholz das Ende der ungeliebten Ampelkoalition ankündigte, lag das BSW in Umfragen zwischen 6 und 8 Prozent. Seit diesem Tag jedoch sanken die Umfrageergebnisse beständig; am Vorabend der Wahl lagen sie zwischen 3 und 5 Prozent – es droht das Scheitern an der Fünfprozenthürde. Am Ende fehlen knapp 10.000 Stimmen für den Einzug in den Bundestag. Es bleibt das beste Ergebnis einer neuen Partei bei den ersten Bundestagswahlen; dennoch ist die Ernüchterung groß.
Was war geschehen? Die Ereignisse der Wochen zwischen Ampel-Aus und Wahltermin werfen ein kritisches Licht auf das politische System und die öffentliche Debatte in Deutschland. Sie spiegeln auch, welche Rolle das BSW im politischen Diskurs spielt, wo es wichtige Impulse setzt und wo es nachjustieren muss. Eine Auseinandersetzung:
1. Was will das BSW?
Ein Grundsatzprogramm fehlt der Partei noch, aber bereits im November ist klar, wofür die neue Schöpfung stehen will: Frieden, soziale Marktwirtschaft, ein nuancierter Umgang mit dem Migrationsdiskurs.
In Abweichung zur Mutterpartei hat es sich das BSW auf die Fahnen geschrieben, Politik der Inhalte, nicht der Diskurse zu machen. Die Sprachregelungen und Symbolpolitik der Linkspartei hatte Wagenknechte bereits 2021 in einer monographischen Abrechnungsschrift als „selbstgerecht“ bezeichnet. Wer nicht richtig gendern kann, wer beklagt, dass Schulklassen nicht mehr unterrichtsfähig sind, weil ein Großteil der Schüler kein Deutsch mehr spricht, wer seinen altgedienten Diesel nicht durch ein schickes E-Auto ersetzt und weiterhin mit dem Flugzeug in den Pauschalurlaub fliegt, der sei von dieser linken Politik nicht mehr vertreten, so ihre Kritik. Die Wähler geben ihr Recht, die Zustimmungswerte der Linken waren schon lange im freien Fall. Nach dem Austritt von Wagenknecht und einigen Getreuen treten zwar neue Mitglieder bei – überwiegend aus dem antifaschistischen Spektrum – die Umfragewerte blieben allerdings dauerhaft im Keller.
Wagenknecht baut in der Zwischenzeit eine neue Partei auf. Deren wesentliches Alleinstellungsmerkmal besteht im Gründungsjahr darin, der „wertegeleitete Außenpolitik“ der Ampelregierung konsequente Friedenspolitik entgegenzusetzen. Die Politik der Grünen Außenministerin Annalena Baerbock und ihres Parteikollegen und selbsternannten „Rüstungsindustrieminister“ Robert Habeck hatten neben schweren wirtschaftlichen Schäden und dem Risiko einer Eskalation des Ukrainekrieges auch dazu geführt, dass Deutschland mit massiven Waffenlieferungen einen Vergeltungskrieg gegen die Palästinensern unterstützt, der sich dem Vorwurf des Genozids aussetzen muss. Das BSW plant, die leidende Wirtschaft stabilisieren, indem sie die Konsequenzen der moralisierenden Wirtschaftspolitik rückgängig machen und zu einer Bewahrung des Mittelstandes und der Schlüsselindustrien zurückkehren will. Das offene Bekenntnis zur Friedenspolitik und die im BSW-Programm geplante Vergesellschaftung von Schlüsselinfrastukturen (Bildung, Gesundheitsversorgung, Energieversorgung) fanden gerade im Osten breite Unterstützung. Ein viel größerer Teil der Bevölkerung lehnte in den neuen Bundesländern Waffenlieferungen in die Ukraine und die von Kanzler Scholz beschlossene Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ab; die Angst vor dem „Russen“ zog hier, wo man jahrzehntelang zusammen gelebt hatte, nicht auf die gleiche Weise. Gleichzeitig bedeuteten geringere Rücklagen der Haushalte und kleinen und mittelständischen Unternehmen, dass die wirtschaftliche Belastung durch die Sanktionen gegen Russland, allen voran der Verlust günstiger Gaslieferungen, viel deutlicher spürbar wurden. Und schließlich stießen Vergesellschaftung im begrenzten Umfang und kommunitarische Gesundheits- und Altersvorsorge im sozialistisch sozialisierten Osten auf größere Gegenliebe.
Doch auch im Osten hatte das BSW nach den großen Erfolgen in den Landtagswahlen an Zustimmung verloren. Insbesondere im Osten sind die Wählerzahlen bei der Bundestagswahl prozentual eingebrochen, wenn sie auch dank der höheren Wahlbeteiligung total stabil geblieben sind. Ein Faktor war eine problematische Regierungsbildung im Thüringen, wo das BSW, um einen Ministerpräsidenten der AfD zu vermeiden, im Zuge der Koalitionsbildung Zugeständnisse machen musste, die vielen Wählern zu weit gingen. Der resultierende Streit zwischen Parteispitze und thüringischer Landesspitze wurde von den Medien als willkommen der Eklat inszeniert. Die letztendliche Einigung wurde den Charakter eines übermäßigen Zugeständnisses jedoch nicht los. Insbesondere jene Wähler, die sich vom BSW erhofft hatten, das politische Establishment abzustrafen – womit man im Wahlkampf durchaus kokettiert hatte - waren damit verloren. Insbesondere im Osten Deutschlands, wo sich viele bereits seit der Wiedervereinigung von der Politik über den Tisch gezogen und ihre Interessen unzureichend repräsentiert fühlten, wurde dieser „Verrat“ der jungen Partei langfristig übelgenommen. Man hoffte, bis zu den kommenden Bundestagswahlen im Herbst 2026 unter Beweis zu stellen, dass diese Koalitionen gute Ergbnisse mit sich bringen würden. Bis zum 23. Februar, dem vorgezogenen Wahltermin, sollte sich jedoch noch vieles ändern.
2. Die Themen im Wahlkampf
Im Vorfeld des Wahlkampfes hatte das BSW in seiner öffentlichen Kommunikation vor allem darauf gesetzt, auf die teils schwerwiegenden Verfehlungen der Ampel-Koalition aufmerksam zu machen. Die Kombination aus kurzsichtiger Umweltpolitik und ideologischer Umgang mit Russland hatte der Wirtschaft schweren Schaden zugefügt, Privathaushalte stark belastet und einer zunehmenden Militarisierung Tür und Tor geöffnet. Dass Ende der russischen Gaslieferungen und die daraus resultierende Abhängigkeit von überteuertem amerikanischen LNG-Gas, in Verbindung mit CO²-Steuern und der Privatisierung der Energienetze, hat dafür gesorgt, dass Deutschland europaweit den höchsten Strompreis hat, zum Schaden von Privathaushalten und Schlüsselindustrien, wie der Chemiebranche. Gleichzeitig hatte Olaf Scholz im Februar 2022 eine „Zeitenwende“ ausgerufen, in deren Folge ein Sondervermögen für militärische Zwecke von 200 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt wurde. In den Folgejahren lieferte Deutschland immer neue Waffen in die Ukraine, zuletzt auch solche, mit denen von der Ukraine aus in russische Gebiete eingedrungen werden konnte. Die Zustimmung der Bevölkerung zu diesen Ausgaben sank beständig, man fürchtete, in einen eskalierenden Krieg mit der Atommacht Russland verwickelt zu werden. Am Rande des NATO-Gipfels im Juli 2024 hatte Olaf Scholz zudem verkündet, dass ab 2026 US-amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert würden – zur Abschreckung. Diese Entscheidung hatte er im Alleingang getroffen, eine echte Debatte darüber fand nicht statt. In diesem Klima der militärischen Eskalationsgefahr und der mehrere Jahre aufeinanderfolgenden Rezession konnte das BSW Sorgen der Bevölkerung eine Stimme verleihen, die im politischen Spektrum sonst nicht berücksichtigt wurden. Diese wichtige politische Pfund verlor im Wahlkampf jedoch an Bedeutung.
Kurz vor dem Zerbrechen der Ampel war in den USA mit Donald Trump ein Präsident gewählt worden, der großspurig das Ende des Ukraine-Krieges in wenigen Tagen nach seinem Amtsantritt verkündet hatte. Dieser fiel in die Kernphase des deutschen Wahlkampfes und nahm der Friedensthematik des BSW etwas den Wind aus den Segeln. Gleichzeitig wurde im Wahlkampf das Thema des Ukrainekrieges bewusst vermieden – die Ablehnung der Bevölkerung war hinlänglich bekannt und gerade CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hatte sich in der Frage als Hardliner erwiesen, als er im Oktober 2024 Putin ein Ultimatum stellte, bei dessen Ablauf er mit Beschuss des russischen Territoriums mit Taurus-Raketen „innerhalb von 24 Stunden“ drohte. Im Wahlkampf war plötzlich keine Rede von diesem heiklen Thema, stattdessen dominierte eine andere Frage die politische Debatte: die Migration.
Bereits in der Linkspartei hatte Wagenknecht eine kritischer Haltung zum Thema Migration eingenommen, ausgelöst durch Gewalt und verschiedene Fälle sexueller Belästigung in Köln in der Silvesternacht 2015/16. Seitdem hatte Wagenknecht immer wieder betont, dass die Zuwanderung begrenzt und kriminelle Migranten abgeschoben werden müssen – während sie sich gleichzeitig bessere Intergrationsmöglichkeiten und Förderung der vielen gute intergrierten Zuwanderer einsetzte. Die Frage, wie mit insbesondere gewaltbereiten Migranten in Deutschland verfahren werden sollte, erlangte im Bundestagswahlkampf auf traurige Weise neue Relevanz, als am 20. Dezember ein saudischer Migrant mit einem PKW vorsätzlich in den Magdeburger Weihnachtsmarkt raste, dabei sechs Menschen tötete und 299 verletzte. Im Februar 2025 steuerte ein Afghane in München sein Auto in eine gewerkschaftlich organisierte Demonstration und tötete eine Mutter und ein Kleinkind, 39 Personen wurden verletzt. Diese und ähnliche Ereignisse lösten eine gesellschaftliche Debatte aus, von der zunächst insbesondere die rechtsextreme AfD profitieren konnte. Das BSW kritisierte die Versäumnisse der Ampel-Koalition in Fragen der inneren Sicherheit und wies auf mangelnde Umsetzung des geltenden Rechts auf Abschiebungen hin. Die größte Oppositionspartei, die CDU, versuchte die Debatte für sich nutzen, indem sie in aller Eile drei Anträge im Bundestag abstimmen ließ, in der sie eine Reihe von Sicherheitsbefugnissen des Staates forderte. Grenzkontrollen wieder einführen und Migranten aus sicheren Drittstaaten abweisen wollten. Zudem sollte der Familiennachzug für Geflüchtete mit nur subsidiärem Schutzstatus ausgesetzt werden. Die Debatte kochte hoch, allerdings gab es wenig Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Positionen. Die Debatte konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Positionierung der AfD. Die rechte Partei hatte natürlich Zustimmung zu den Anträgen der Christdemokraten signalisiert. Parteien und Presse diskutierten nun in erster Linie, ob man einem Antrag zustimmen dürfe, der mit Stimmen der AfD durch den Bundestag gehen würde. Das BSW hatte bereits in den Monaten zuvor verkündet, sich an der „Brandmauer“ nicht zu beteiligen, da eine solche Debatte die Diskurshoheit der AfD überlasse und somit zu ihrem Aufstieg beitrage und bereits beigetragen hatte. Konsequenterweise stimmt das BSW in den drei Abstimmungen auf Basis inhaltlicher Erwägungen: einmal dagegen (u.a. Erweiterung der staatlichen Befugnisse zur Vorratsdatenspeicherung), einmal mit Enthaltung (Grenzkontrollen), und einmal dafür (Beschränkung des Familiennachzugs von subsidiär Schutzberechtigten). In der aufgeheizten Debatte war jedoch kein Raum für eine solche inhaltliche Nuancierung. Der CDU fügte die Initiative nur geringen Schaden zu; ihre inhaltliche Nähe zur AfD, die eine Abspaltung der Christdemokraten ist, war bekannt und nun bot sie dem bürgerlichen Milieu eine „demokratische“ Alternative zur AfD bei weitgehender Übereinstimmung der Positionen. Gelitten hatte unter der Debatte ironischerweise vorrangig das BSW: das linke Spektrum der Wähler und Unterstützer wollte auch mit einer teilweisen Zustimmung zum CDU-Antrag nichts zu tun haben während migrationskritische Wähler bereits mit AfD und CDU eine politische Heimat gefunden hatten. In der Folge der Abstimmungen gingen in Deutschland tausende gegen einen „Rechtsruck“ und den Fall der Brandmauer auf die Straße, die bis dahin fast verschwundene Partei die Linke gewann nach einer Wutrede ihrer Vorsitzenden auf einen Schlag tausende Mitglieder.
3. Umfragepolitik und die Rolle der Presse
Der unerwartete Aufstieg der Linkspartei, die beim Bruch der Ampelkoalition noch bei 3,5% Prozentpunkten vor sich hin gedümpelt hatte, zeigt symptomatisch nicht nur die Polarisierung der politischen Debatte im Wahlkampf sondern auch die Rolle der Presse und Umfrageinstitute im Wahlkampf.
Bereits zu Beginn des Wahlkampfes zeigte sich, dass es die großen Medienanstalten dem BSW im Wahlkampf nicht leicht machen würden. War Wagenknecht in den Monaten zuvor wegen ihrer Popularität und Streitbarkeit gern gesehener Gast in Polittalkshows, wurde das BSW im Wahlkampf von den wichtigsten Formaten ferngehalten. TV-Duelle der Spitzenkandidaten gab es nur mit AfD-Chefin Alice Weidel. Die Medien zielten hier auf eine Gleichstellung der „Populisten“, als wäre eine libertäre, in Teilen rechtsradikale Partei der Reichen vergleichbar mit einer links-konservativen Friedenspartei. Die Praxis der TV-Duelle ist insgesamt höchst tendenziös: Im Wahlkampf 2025 gab es nur ein einziges Format mit allen Spitzenkandidaten, dagegen allein dreimal ein Rededuell der Kandidaten der Sozialdemokraten und Christdemokraten, als seien Friedrich Merz und Olaf Scholz die einzigen realistischen Anwärter auf den Posten des Bundeskanzlers. Die SPD rangierte bei den Umfragen und auch im endgültigen Wahlergebnis jedoch deutlich unter der AfD.
Gleichzeitig stürzt sich die Presse stürzt sich auf jedes mögliche Skandälchen der noch im Aufbau befindlichen Partei: Austritte einzelner Mitglieder, eine rechtlich völlig wirkungslose Gegenaufstellung einer Landesliste in Hamburg oder vorgebliche Verfehlungen der Abgeordneten in der thüringischen Landesregierung füllten tagelang die politischen Klatschspalten. Gleichzeitig setzt ein bemerkenswertes Umdenken im Umgang mit der Linkspartei ein.
SPD-Politiker Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Transatlantik-Brücke und seit Kurzem Aufsichtsratsmitglied beim Rüstungskonzern Rheinmetall, überraschte im Januar bei Marcus Lanz im ZDF mit einem Wunsch: Er sehe lieber die Linkspartei im Bundestag als das Bündnis Sahra Wagenknecht. Wenige Tage später folgte ein bemerkenswerter Schwenk in den Umfragezahlen: Laut der ZDF-finanzierten Forschungsgruppe Wahlen läge die Linke bei 5 Prozent, das BSW hingegen nur noch bei 3 Prozent.
In den Medien und sozialen Netzwerken wird sogleich der Untergang des BSW eingeläutet. Die nur einen Tag ältere INSA-Umfrage, die dem BSW solide 7 Prozent prognostiziert, bleibt lieber unerwähnt. Die Linkspartei hingegen ist plötzlich im Aufwind. In den Umfragen steigt sie von 3,5 Prozent im Januar auf 10,5 Prozent am Vorabend der Wahl. Doch nicht nur das: die deutsche Presselandschaft von links bis konservativ scheint plötzlich geschlossen bereit, diese Partei in den Bundestag zu hieven. In der Woche vor den Wahlen hat fast jedes größere Medienoutlet eine Präferenz für Linkspartei deutlich gemacht. Viele potenzielle BSW-Wähler sorgen sich, dass ihre Stimme gegen Aufrüstung und für soziale Gerechtigkeit durch die Sperrminorität verloren geht – bis zum Wahlabend kursieren falsche Umfragewerte von z.T. nur 3,2% für das BSW. Die Prophezeiung erfüllt sich selbst: Das BSW scheitert denkbar knapp – nur 9.500 Stimmen fehlen für den Einzug in den Bundestag, während die Partei die Linke mit 8,8% aus den Trümmern wieder aufersteht.
Weshalb wollten aber etablierte Parteien wie Presse die bisher verachteten Linken plötzlich im Bundestag sehen? Wenige Wochen nach der Wahl stimmt der Bundestag über ein massives Schuldenpaket ab, dass zum allergrößten Teil der Aufrüstung dient. Mit dem BSW im Bundestag wäre es in der Abstimmung gescheitert. Die von der Linken regierten Länder stimmen dem Programm im Bundesrat unter dem Vorwand von Infrastrukturinvestitionen für die Länder zu. Sigmar Gabriel wusste, auf wen er sich verlassen kann.
Noch ein weiterer Punkt wirft Fragen auf: Das denkbar knappe Scheitern der Partei veranlasst einige, allen voran EU-Parlamentarier Fabio de Masi, die Übertragung der Wählerstimmen exemplarisch zu prüfen. Wo die Behörden kollaborieren werden hunderte Stimmen gefunden, die fälschlich dem Bündnis Deutschland, einer rechten Kleinstpartei, zugeschlagen wurden. Der Einzug in den Bundestag wurde aber so knapp verfehlt, dass eine Gesamtprüfung und Neuauszählung angebracht wäre, wie selbst manche konservative Medien zugeben, die das Vertrauen in die Demokratie durch die Weigerung der Bundeswahlleitung beschädigt sehen. Bisher erfolglos: Die Abgeordneten in Berlin räumen ihre Büro, während eine echte Opposition im Bundestag, insbesondere in Fragen der Friedenssicherung, fehlt.
4. In das „Wir“ investieren
Die Widerstände, mit denen die junge Partei zu kämpfen hatte, waren erheblich. Man kann aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass mehr drin gewesen wäre, wenn es der Partei gelungen wäre, ein Wir-Gefühl aufzubauen, dass das Projekt resilienter gegen Anfeindungen von außen und wechselnde Wahlkampfthemen gemacht hätte. Das Potenzial war da: Gerade die Friedensbewegung und vielen insbesondere ostdeutschen Unterstützer, die sich endlich von der Politik und besonders der Person von Sahra Wagenknecht selbst abgeholt gefühlt haben, hätten sich nur zu gern mit vollem Enthusiasmus hinter das BSW und ihre Leitfigur gestellt. Viele wurden jedoch vor den Kopf gestoßen, teils aus berechtigter Vorsicht, teils, weil man im BSW seine eigenen Wähler zu schlecht kannte.
Die Praxis des BSW, Mitglieder nur sehr langsam und nach sorgfältiger Prüfung aufzunehmen, hat bereits früh für Unmut gesorgt, wenn es auch seine Berechtigung hat. Eine Partei ohne Wurzeln in einer etablierten Bewegung, die sie tragen kann, zieht notgedrungen zunächst ein breites Spektrum an Menschen an, die Einfluss nehmen oder sich Posten sichern wollen. Es stoßen aber auch Menschen dazu, die schlicht missverstanden haben, worum es in diesem politischen Projekt gehen soll oder ihre eigene Agenda durchzusetzen hoffen. Ein Grundsatzprogramm existiert bis heute nicht und gerade die im Vergleich zur Linkspartei restriktivere Migrationspolitik oder breiter aufgestellte Mittelstandsförderung werden bei weniger gut informierten BSW-Enthusiasten bisweilen missverstanden. Wie eine Partei systematisch von Radikalen unterwandert und inhaltlich nachhaltig umgeprägt werden kann, hatte der Fall der AfD wenige Jahre zuvor gezeigt. Nach deutschem Parteiengesetz sind einmal aufgenommene Mitglieder aber kaum wieder loszuwerden, sodass man das Zögern der Parteispitze beim Aufnahmeprozess nachvollziehen kann. Obgleich diese Praxis für viel Murren aus den Kreisen der vielen aufopferungsvollen Unterstützer gesorgt hat, wäre es vermutlich verziehen worden, wenn die Partei dieses Zögern durch einen Versuch wettgemacht hätte, eine echte Beziehung zu ihren Wählern aufzubauen.
Eine Beziehung aufbauen, Teilhabe zulassen, nahbar sein – daran mangelt es im BSW noch. Das Versäumnis der Beziehungspflege mag der Eile der zahlreichen Wahlkämpfe geschuldet sein, die das Bündnis beinahe sofort nach Gründung bestreiten musste. Nun, da der Einzug in den Bundestag verpasst und das nächste Wahljahr noch etwas hin ist, sollte dieser Prozess aber höchste Priorität genießen. Nicht nur die Wähler, auch die Mitglieder müssen besser an die Partei gebunden wären. Da kann man nicht zur Wahlparty in Berlin wenige Minuten vor Verkündigung des Ergebnisses auftauchen – auch und gerade, wenn es unerfreulich ist. Sahra Wagenknecht liege das menschliche nicht, hört man. Muss es auch nicht: Es gibt andere Menschen in diesem Bündnis, die nun auch mitgestalten dürfen müssen, die dann das gemeinsam Beschlossene glaubwürdig der Basis vermitteln, die vor Ort und ansprechbar sein können.
Das BSW tritt mit neuen Inhalten an. Wenn es überleben will, muss es auch eine neue politischen Kultur pflegen: transparent, ehrlich, nahbar. Wer sich mit etablierten Machtstrukturen anlegen will, wird viel Gegenwind erfahren. Dem hält eine Partei nur stand, wenn sie es schafft, tief verwurzelt in den Regionen und sozialen Gruppen zu sein, die sie vertreten will.
In das „Wir“ zu investieren bedeutet auch, ein politisches Vorfeld aufzubauen. Eine Entscheidung, wie die Zustimmung zu einem der von der CDU eingebrachten Anträge zur Migrationsbegrenzung kann nur dann funktionieren, wenn die breite Mehrheit auch versteht, was da geschieht – sowohl die Symbolpolitik der Altparteien, als auch die abgewogen inhaltliche Entscheidung des BSW. Auch das war in der Kürze der Zeit nicht zu leisten, weshalb man sich wohl rückblickend besser enthalten hätte. Jetzt aber ist Zeit, in die Bildung der Mitglieder und Unterstützer zu investieren, die solche Entscheidungen nachvollziehen und vertreten können müssen. Jetzt ist Zeit, auf die falsche politische Kultur der Altpartien und ihrer Speerspitze, die Medien, aufmerksam zu machen und dem etwas entgegenzusetzen. Es ist Zeit für ein Grundsatzprogramm, in dem nicht nur die Ziele der Partei festgeschrieben werden müssen, sondern auch der Politikstil. Nur so kann etwas tragfähiges Neues entstehen.