Universität und der Frieden

Hochschulen sollen ein Ort der Wahrheitsfindung sein. Dazu müssen sie kritische Debatten aushalten - auch über Krieg und Frieden. - Meine Rede zum Ostermarsch am Universitätsplatz in Halle

Liebe Freundinnen und Freunde,

es heißt: Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit. Und tatsächlich: Wer Frieden will, muss zuerst für die Wahrheit kämpfen – oder zumindest für das Recht, sie zu suchen.

Wir stehen hier auf dem Universitätsplatz – an einem Ort, der für diese Suche steht. Eine Universität ist mehr als ein Ausbildungsbetrieb. Sie soll ein Schutzraum für das sein, was andernorts oft fehlt: für kritisches Denken, für Differenzen, für Widerspruch.

Gerade in kriegerischen Zeiten ist dieser Raum bedroht. Denn Kriege brauchen keine Wahrheit. Sie brauchen Erzählungen. Sie brauchen klare Lager, einfache Freund-Feind-Schemata, "Wir gegen die", "Zivilisation gegen Barbarei", "Verteidigung gegen Aggression". Alles, was dazwischen liegt, stört.

Aber Universitäten sollen solche simplifizierenden Dichotomien stören. Sie sollen Fragen aufwerfen: nach Kontext, nach Ursachen, nach Geschichte. Wer aber heute nach Kontext und Geschichte fragt, wird schnell in die eine oder andere Schublade gesteckt; selbst Wissenschaftler, Forschende, Suchende begehen diesen Fehler. Dabei sollten sie und wir alle wissen: Wahrheit ist keine Einbahnstraße. Sie ist ein Prozess – mühsam, widersprüchlich, offen. Und dieser Prozess braucht Räume: Räume, in denen gestritten, gezweifelt, gelernt werden darf.

Es ist kein Zufall, dass in Gaza gezielt Universitäten zerstört wurden. Schon in den ersten Wochen des Krieges trafen Bomben mehrere Hochschulen, heute existiert keine einzige mehr. Warum? Weil Universitäten auch Orte der Selbstbehauptung sind, des kulturellen Gedächtnisses, der intellektuellen Autonomie. Wer eine Gesellschaft brechen und ihre Identität beschädigen will, zerstört nicht nur ihre Häuser – sondern auch ihre Schulen, ihre Archive, ihre Bücher.

Wenn wir also heute über Frieden sprechen, dann sprechen wir auch über Wahrheit. Kant war überzeugt, dass ein Volk selbst über Krieg und Frieden entscheiden können sollte. Die Bevölkerung, nicht die Machthaber müsse die Last tragen. Kant nahm an, dass eine Bevölkerung sich nie freiwillig für den Krieg entscheiden würde – man muss ihn ihr erst verkaufen: durch Angst, durch Feindbilder, oder, besonders perfide: durch das Versprechen eines Wirtschaftsaufschwungs. Die Universität sollte einer der Orte sein, die sich solchen Manipulationsversuchen verwehrt, die radikal für die Suche nach der Wahrheit steht und so – hoffentlich – den Weg für den Frieden bereiten hilft. Wenn sich Wissenschaft aber vereinnahmen lässt, wenn sie die Suche nach Wahrheit durch Opportunität ersetzt – wir haben gesehen, wofür sie dann den Boden bereiten kann.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird allerorten über Aufrüstung gesprochen, über "Zeitenwenden", über militärische Stärke. Als Historikerin frage ich: Wer schreibt diese Narrative? Und wer stellt sie infrage?

Die Universität muss ein Ort bleiben, an dem solche Fragen gestellt werden dürfen. Auch unbequeme. Auch gegen den Strom. Sie muss ein Ort sein, an dem wir nicht nur Technik, sondern auch Ethik lehren. Nicht nur Effizienz, sondern Verantwortung.

Frieden, liebe Freundinnen und Freunde, beginnt nicht erst am Verhandlungstisch und schon gar nicht auf dem Schlachtfeld – sondern hier. In den Köpfen. In unseren Institutionen. In dem, was wir erinnern – und was wir vergessen.

Ich wünsche mir eine Universität, eine Stadt, eine Gesellschaft, die den Mut hat, immer neu nach der Wahrheit zu suchen, immer wieder nach Kontexten zu fragen, immer wieder nach Lösungen zu forschen – und so immer wieder den Frieden zu verlangen.

Danke.

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Das Zitat "Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst" wird dem US-Senator Hiram Johnson zugeschrieben(1917): "The first casualty when war comes is truth."

UNESCO (2024): Verurteilte die "massive and systematic destruction" der Universitäten in Gaza, insbesondere die Islamic University of Gaza, Al-Azhar University, Al-Quds Open University.

 

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